UdZPraxis 1/2020

23 UdZ Praxis | Gastbeitrag Doch wie überprüft man ex ante die Robustheit komplexer Wertschöpfungsketten? Die gute Nachricht ist: Es gibt schon heute Instrumente, um die Risikoexposition von Unternehmen gegenüber schwer planbaren Ereignissen abzubilden. Man denke nur an die Finanzwirtschaft: Hier greifen die Regulierer zu Stresstests, um Institute auf den Prüfstand zu stellen. Dieser Ansatz ist auch für die Industrie geeignet – und notwendig. Denn das Schicksal eines Unter- nehmens entscheidet sich nicht in der Krise. Es entscheidet sich in den Erfolgsjahren. Stresstests legen durch die Untersuchung von Worst-Case-Szenarien betriebliche Schwachstellen offen. Ziel ist nicht nur die Identifikation dieser Schwachstellen. Es geht auch um die bewusste Auseinandersetz- ung mit möglichen Ereignissen und deren Folgen, um das Risikobewusstsein der Mitarbeiter zu fördern. Und selbst wenn sich nicht jedes Problem vorhersehen lässt: Der Umgang mit dem Un- erwarteten lässt sich üben. Wenn sich Unternehmen auf Veränderungen vorbereiten und einen Handlungsvorrat anlegen, profitiert davon die gesamte Organisation allein schon deshalb, weil ihr Vorstellungsvermögen geschult wird. Stresstests in der Industrie können ihr volles Potenzial besonders mit der Simulationskraft der Künstlichen Intelligenz (KI) entfachen. Im Zentrum steht dabei der digitale Zwilling, ein virtuelles Abbild eines materiellen Objekts oder Prozesses. Mit diesen virtuellen Modellen lassen sich alle möglichen Szenarien durchspielen. Das Unternehmen Dassault Systèmes etwa hat den kompletten Stadtstaat Singapur als digitalen Zwilling aufgesetzt. Geschäfte könnten ihre Öffnungszeiten darin an die Passantenströme anpassen, im virtuellen 3D-Modell der Stadt lassen sich sogar Luftströme an Hochhäusern simulieren, Ampelphasen testen und Funknetze ein- oder ausschalten. Mit einer derartigen Technik habe ich mit meinem Unternehmen TCW nun komplexe Lieferketten unter den Belastungsbedingungen einer Pandemie simuliert. Die Vorteile liegen auf der Hand. Wir haben ein Warenstrommodell entwickelt und Reaktionsmuster für Schwachstellen aufgezeigt. Damit konnten wir den Blick auf schwache Signale im Unternehmensumfeld schärfen. Über KI-Ansätze konnten wir die Wahrscheinlichkeit von Strukturbrüchen aufzeigen und damit robustere Lieferketten gestalten. Klar: Katastrophen werden wir auch in Zukunft kaum verhindern können. Wir müssen aber weg- kommen von einem Ad-hoc-Katastrophenmanagement, wir brauchen Präventivstrategien. Mithilfe innovativer Technologien und des richtigen Methodenbaukastens können Unternehmen die Zahl böser Überraschungen reduzieren. Wildemann Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult Horst Wildemann Technische Universität München Forschungsinstitut für Unternehmensführung, Logistik und Produktion; Geschäftsführer der Unternehmensberatung TCW (www.tcw.de) Der Abdruck dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Artikel „Digitaler Zwilling – Wie sich die Wirtschaft vor künftigen Katastrophen schützen kann“ erschien am 19.05.2020 in der WirtschaftsWoche.

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