UdZPraxis 1/2020

61 UdZ Praxis | Gastbeitrag Die RE-Gnose : Unsere Welt im Herbst 2020 Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir, im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafe in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Straße bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee wieder wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser? Worüber werden wir uns rückblickend wundern? Wir werden uns wundern , dass die sozialen Verzichte , die wir leisten mussten, selten zu Vereinsa- mung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Ver- zichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötz- lich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die das Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennen- gelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst. Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an. Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fußballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist. Wir werden uns wundern , wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis be- währten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für viele zu einer Selbstverständ- lichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist. Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonierens ohne Second Screen hervor. Auch die „Messages“ selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ nie- manden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbar- keit. Der Verbindlichkeit. Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich aus- giebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult. Reality-Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert. Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkrie- ge um… ja, um was ging da eigentlich? Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, überflüssig machen… Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.

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